Nazir soll gehen. Er soll Deutschland verlassen. Die Nachricht, dass sein Asylantrag vielleicht endgültig abgelehnt worden ist, trifft nicht nur den 31-jährigen Afghanen wie ein Schlag. Sie reißt auch Familie Price aus Olfen den Boden unter den Füßen weg. Dort lebt Nazir Ahmad Khawari. Die Olfener sind zu seiner Familie geworden.
Birgit Price kennt Nazir Ahmad Khawari seit Ende 2013. Seitdem war sie in der Flüchtlingshilfe Olfen aktiv. Anfang 2015 habe der 31-jährige Afghane unter psychischen Problemen gelitten, befand sich in einem schwierigen Lebensabschnitt. Er leidet unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, sagt Birgit Price.
„Er ist mein fünftes Kind“
Sie wollte helfen, Nazir bei sich aufnehmen, ihm in ihrer Familie Schutz und eine Perspektive bieten. „Ich hatte ein Zimmer frei und habe ihn gefragt, ob er bei uns leben möchte“, erzählt die 50-Jährige. Seit März 2015 wohnt er bei Familie Price.
Wenn man sie fragt, was Nazir für sie ist, sagt sie: „Er ist mein fünftes Kind, mein Sohn.“ Er gehört zur Familie Price. Ohne Nazir? Der Gedanke schmerzt. Birgit Price will sich das nicht vorstellen und ihre Kinder genauso wenig.
Nazir Ahmad Khawari hat eine Aufforderung zur freiwilligen Ausreise bekommen. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, ebenso eine Klage und ein Folgeantrag. Jetzt soll der 31-Jährige wieder in seine Heimat reisen, das Land, das ihm Angst macht.
Das ist der Zustand in Afghanistan:
Khawari gehört zur Volksgruppe der Hazara, einer der drei großen Stämme Afghanistans neben den Paschtunen und Tadschiken. Der Stamm siedelt im Zentrum des Landes. Als Schiiten gehören die Hazara einer Minderheit an, wie Khawari sagt. Von den rund 32,5 Millionen Einwohnern gehört nur etwa ein Fünftel dem schiitischen Islam an. Die Hazara machen zusätzlich nur neun Prozent der Gesamtbevölkerung aus und werden wegen ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit diskriminiert und verfolgt.
Deshalb ist Khawaris nach Deutschland gekommen:
Nazir Ahmad Khawari spricht davon, dass in Afghanistan täglich Hazara getötet werden: „Die Sunniten sagen, die Hazara sind keine Moslems“, erzählt der junge Mann, dessen Familie in Ghazni, etwa 150 Kilometer südwestlich von Kabul lebt. Seine ethnische Zugehörigkeit ist eine Sache, eine andere ist, dass er vor seiner Flucht eine Ausbildung zum Polizisten gemacht und nach dem Einmarsch ausländischer Truppen in sein Land im Jahr 2001 für die amerikanische Armee und die Nato gearbeitet hat.
Khawari sagt, er habe in einem kleinen Posten in seiner Heimatprovinz gearbeitet, bis sein einziger Kamerad getötet wurde. Danach sei er geflohen. Erst durch Afghanistan, wo er beim amerikanischen Militär Schutz fand, und anschließend, nachdem ihn der Krieg, der Terror und das Morden einholten, floh er in den Iran. Dort lebte er zwei Jahre. Über die Türkei und Griechenland kam er nach Deutschland.
In Deutschland eine zweite Familie gefunden
Fast 14 Jahre habe er seine Familie nicht mehr gesehen, erzählt der 31-Jährige. In Olfen fand er seine zweite Familie, die ihm seitdem in einer schwierigen Zeit zur Seite steht. Nazir Ahmad Khawari ist keiner, der untätig sein will. Er will arbeiten, sagt er. Eine Ausbildung machen. Doch alle seine Bemühungen sind bislang gescheitert. „Vom ersten Tag an wollte ich in die Schule gehen“, sagt Khawari. Er wollte sofort Deutsch lernen. Doch es dauerte Wochen, Monate, bis er einen Platz in einem Deutschkurs bekam.
Das Nichtstun setzt ihm zu. Er leide unter Angstzuständen, sagt der 31-Jährige. Mehrere Stunden am Tag sei er unterwegs in Olfen. „Er will die Kinder nicht belasten“, fügt Birgit Price hinzu – gemeint sind ihre drei Söhne Max, Sam, Liam und Tochter Heidi.
Jetzt reicht ein einziges Papier, ein Brief der Ausländerbehörde, um den Druck auf den jungen Mann noch weiter zu erhöhen. In den Anhörungen und vor Gericht habe man Khawari nicht geglaubt, sagt die Bonner Rechtsanwältin Anna Busl, die den Afghanen vertritt. Das Ausländer- und Asylrecht gehört zu Busls Fachgebieten und sie hat auch eine Erklärung, warum man ihrem Mandanten nicht glauben wollte.
Darum hat man Khawaris Asylantrag abgelehnt:
Beim Anhörungstermin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) habe Khawari seine Fluchtgeschichte und die Gründe, warum er geflohen ist, nicht glaubhaft schildern können, erklärt Busl. Die Rechtsanwältin sieht den Grund in seiner psychischen Erkrankung: Betroffenen einer Posttraumatischen Belastungsstörung falle es schwer, ihre Geschichte – und vor allem die traumatischen Ereignisse – zusammenhängend zu schildern. Dadurch werde die Schilderung lückenhaft.
„Einige Erinnerungen sind blockiert“, sagt Busl. Die Anhörungssituation sei dabei nicht förderlich: Der Asylbewerber sitze in einem Raum mit einem „Entscheider“ und einem weiteren Mitarbeiter des Bamf, wie Busl beschreibt. Hinzu komme ein Dolmetscher. Der Asylbewerber soll unter anderem seine Geschichte und von seinem familiären Hintergrund berichte. Dann kommen die Nachfragen. „Er wird abgeklopft“, beschreibt die Bonner Rechtsanwältin.
Auch Khawaris Unterlagen, zum Beispiel Auszeichnungen der US-Armee, wurden angezweifelt. Dabei habe es sich um einen unterschriebenen Vordruck aus dem Internet gehandelt, so Busl. Für das Bamf und das Verwaltungsgericht Münster – wo der Fall anschließend verhandelt wurde – ein Grund, an den Schilderungen zu zweifeln.
So geht es für Khawari weiter:
Die Anwältin sieht das größte Problem aber darin, dass das Gericht die Gutachterin – eine anerkannte Psychotherapeutin – so Busl, und damit auch das Gutachten wegen angeblicher Mängel anzweifele. Busl habe jetzt einen Antrag bei der zuständigen Härtefallkommission gestellt, gleichzeitig liege dem Kreis Coesfeld ein Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen vor. Außerdem gehe der Fall vor Gericht weiter.
Birgit Price sagt, sie habe ihre Kinder schon darauf vorbereitet, dass irgendwann Polizisten vor der Tür stehen und Nazir in Handschellen mitnehmen könnten – ihr fünftes Kind.
Quelle: Ruhrnachrichten